Die Schatulle

 

Da stand sie nun. Allein in ihrer Wohnung. Sie war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Es war so unheimlich still in diesem großen, alten Haus. Nur leise, durch den Spalt des gekippten Fensters, konnte sie in den Bäumen ein paar Amseln singen hören. Der Wind spielte, wie er es mit kleinen Wellen auf einem See macht, mit der Gardine und in den Scheiben spiegelte sich das sanfte Rot der untergehenden Sonne.

 

Sie dachte daran wie diese Wohnung noch vor ein paar Wochen, bei ihrem Einzug, ausgesehen hatte. Ein eisiger Schauer durchlief sie, bei dem Gedanken an die dunklen, kalten Farben, die schmutzig-trüben Fenster und die Staubwollmäuse, die überall waren und scheinbar diese Wohnung in Besitz nehmen wollten.

 

Seit dem hatte sich viel verändert. Die Wände waren freundlich, weis gestrichen und sie hatte ihre Lieblingsbilder aufgehängt. Es waren Bilder, die sie selbst zeichnete. An den Fenstern flatterten fröhlich die, von der Zugluft getriebenen, Vorhänge und glänzten in allen Gelbtönen. Dazu eine hübsche Sitzlandschaft und ein kuschelig, weicher Teppich. Eine orangene Bodenvase mit einem großen Strauß goldener Weizenähren gab dem Raum seine natürliche Note.

 

Eigentlich wollte sie an diesem Abend gar nichts mehr tun. Sie war so ausgelaugt von der Arbeit und wollte viel lieber nur mal sitzen und ausruhen. Doch die Stille in ihrer Wohnung war viel zu laut in ihren Ohren. Ein Film, das wäre die Lösung! Zu ihrem Bedauern musste sie feststellen, dass ausgerechnet der Karton mit den DVDs, einer von denen war, die sie noch nicht ausgepackt hatte.

„Also dann“, dachte sie sich und setzte sich mit der Kiste auf den Boden vor den Fernseher. Sie nahm sich Zeit. Eine DVD nach der Anderen holte sie aus dem schmalen, hohen Karton heraus, betrachtete sich die Titel der Filme und erinnerte sich an Filmausschnitte. Bei Manchen wurde ihr schwer ums Herz, bei Anderen musste sie schmunzeln. Eine Weile überlegte sie, welchen Film sie heute schauen sollte. Doch dann wollte sie das nicht entscheiden, bevor sie den Karton nicht ganz ausgepackt hätte. Warum hatte sie dafür nur diese blöde, viel zu enge Verpackung ihres alten DVD Players genommen. Man konnte nicht sehen wonach man griff. Während ihre Hände das dunkle Lager der Filme erforschten, ertasteten sie etwas kühles Metallisches.

Behutsam zog sie hervor, was sich in ihren Gedanken, schon bevor sie wusste was es war, als kleiner Schatz glaubhaft machte. Ein Staunen huschte über ihr Gesicht als sie die Schatulle erblickte.

Die hatte sie beinahe vergessen.

 

Sanft fuhr sie mit ihren Fingern über die Figur des exotischen Mädchens, das sich mit Pfauenfedern schmückte. Ertastete die beiden Pfauen, die wie eine Krone über ihrem Kopf thronten. Sie befühlte jeder Kleinigkeit, jede Wölbung, jede Tiefe, die Kunstvoll in den Deckel der Schatulle eingearbeitet war.

 

Plötzlich schien sie wieder mitten auf diesem großen Platz zu stehen. Es roch nach Regen-geschwängerter Luft. Um sie herum vernahm sie das hektisch-laute Treiben des Flohmarktes. Sie hatte das Gefühl, ihre Hand wurde wieder von diesem Mann gehalten, der ihr damals die Schatulle schenkte. Seine warme weiche Hand umfasste ihre, sie fühlte sich sicher und so geborgen bei ihm. Sie erinnerte sich an die vielen kleinen Stände mit ihrem altem Trödel, den Geruch nach Dachboden- und Kellerfunden. Sie träumte sich an die Seite dieses Mannes, der scheinbar weiter fest ihre Hand in seiner hielt. Gemeinsam schlenderten sie durch diese Anhäufung von alten, unnötig gewordenem und sogar antiken Kleinmöbeln, Büchern, Bildern, Haushaltsgeräten, Schallplatten und vielem mehr. Er war die ganze Zeit bei ihr und hielt ihre Hand. Seine ruhige, sonore Stimme hatte etwas Einzigartiges. Sein Reden erzeugte in ihr ein Vibrieren und ihr Puls schlug im Einklang mit der Melodie seiner Worte. Er feilschte für sie um den alten Kunstdruck eines Renoirs und erzielte einen Preis, den man gut und gern als geschenkt betrachten konnte.

Schon das war ein richtiger Glücksgriff, aber den wahren Schatz dieses Flohmarktes sollte sie erst noch finden.

Mit ihrem Begleiter an der Seite und ihrer Hand in Seiner, die so viel Nahe und so viel Zuneigung offenbarte, streife sie weiter. Sie stand in einem Wirrwarr aus altem Zeug, dieser lieblos auf dem erdigen Boden aufgetürmte Stand schien nichts zu haben, dass auch nur annähernd einen Wert hatte oder wert war gekauft zu werden. Bis ihr Blick auf die kleine grünblaue Schatulle am Boden fiel. Sie war schwer und kühl. Die grünblaue Farbe unterstrich das Kühle und doch strahlte die Figur auf ihrem Deckel eine warme Vertrautheit aus. Sie musste diese Schatulle haben!

 

Der Händler verlangte einen unmöglichen Preis für dieses Kleinod und auch auf einen Handel schien er sich nur schwer einzulassen. Nur ein klein Wenig gab er im Preis nach, so dass der Besitz dieses wundervollen Kunstwerks für sie in weite Ferne rückte. Traurig öffnete sie die Schatulle, befühlte den feinen, schwarzen Samt in ihrem Inneren und dachte, dass dieser wohl für echte Schätze gemacht ist. Dort würde sie aufbewahren wollen, was sie am meisten liebte. Sie wollte die Schatulle gerade zurückstellen und weitergehen, denn es half nichts etwas zu begehren, das man sich nicht leisten konnte als sich in diesem Moment die Hand, die die ihre die ganze Zeit umschlossen hielt, löste. Ohne ein Wort zu sagen, streckte er dem rauchenden Verkäufer das Geld hin und machte ihr die Schatulle zum Geschenk.

 

Im Stillen versprach sie sich, in dieses Geschenk, all das hineinzulegen, was sie mit diesem Mann verband, alles was sie zusammen halten ließ, alles was sie gemeinsam stark machte.

So wie die Schatulle, war ja auch er ein Geschenk für sie. Er war so besonders, so einzigartig. Ihre Beziehung so tief und voll, voll an Gefühlen, an Zuneigung, an Ehrlichkeit. Sie fühle sich so wohl und zu Hause in den Armen dieses Mannes.

 

Eine kühle Abendbrise riss sie aus ihren Gedanken. Über ihrem Träumen war es bereits dunkel geworden. Sie dachte daran wie lang es schon her war, dass sie diesen Mann gesehen und in ihre Arme geschlossen hatte. Wie lange war es schon her, dass sie sich das letzte Mal so behaglich, angenommen und sicher gefühlt hatte.

 

Gedankenvoll an diese schöne Zeit öffnete sie die Schatulle. Sie war leer.

 

 

©uwk